Buchbesprechung: Accelerate von J.P.Kotter

Das Konzept der Ambidextrie gibt es seit 1976 und die Idee einer bi-modalen/hybriden/dualen Organisation ist per se nichts Neues. Die Konzeption der «Dualen Organisation» hat der weltbekannte Change-Experte und emeritierte Harvard-Professor John P. Kotter durch sein Buch «Accelerate» jedoch erst 2012 einer breiteren Masse bekannt gemacht. Das Werk wurde 2015 auf deutsch übersetzt. Es sollte von Jedem gelesen werden, der sich in Organisationen mit Digitalen Transformationsthemen beschäftigt.

Dies sind die wichtigsten Erkenntnisse:

  • Zusammen mit der hierarchischen Aufbauorganisation bildet die zusätzliche komplementäre Netzwerkorganisation ein duales System.
  • In diesem dualen System ist die Aufbauorganisation mit dem Management des operativen Geschäfts beschäftigt, wohingegen sich die Netzwerkorganisation um die dauerhafte Erarbeitung und Umsetzung von strategischen Initiativen und Aufgaben kümmert.
  • Die Organisation wird vorerst nicht geändert, sondern um ein weiteres System ergänzt.
  • Die neu entstandene Netzwerkorganisation ist dabei nicht als unabhängiges Gebilde zu sehen, sondern agiert in engem Austausch mit dem Management der hierarchischen Organisation.
  • Die Netzwerkorganisation ist gleichwertig zur hierarchischen Organisation und mit dieser im ständigen Austausch

Des Weiteren geht Kotter auf die beiden Betriebssysteme (BS) einer Dualen Organisation ein, wobei das erste BS die hierarchische, funktionale Aufbauorganisation umfasst und das zweite BS die Netzwerkorganisation, in der agil gearbeitet wird. Um die Netzwerkorganisation erfolgreich aufzubauen, führt er 8 Beschleuniger (=Accelerators) auf, welche auf den 8 Schritten des erfolgreichen Wandels beruhen (welche er in dem 1996 erschienen Buch «Leading Change» vorstellte).

Die 8 Accelerators:

1. Dringlichkeitsgefühl («sense of urgency) schaffen
Das Top Management, so meint Kotter, soll den Mitarbeitenden die grosse Dringlichkeit einer grossen Opportunität (big opportunity) aufzeigen, damit die entsprechenden Massnahmen konsequent genug auf- und umgesetzt werden.
Wir, vom Transformationszentrum, glauben, dass die Schaffung eines solchen «sense of urgency» auf dieser hohen Flughöhe («Wir müssen eine Duale Organisation werden!») zu theoretisch angelegt ist. Denn die Duale Organisation ist ein Endzustand, den zu erreichen, 10+Jahre dauert. Wirklichkeitsnäher ist es, mit 2-3 Leuchtturm-Digitalisierungsprojekten das Zweite BS zu starten und um diese Projekte herum eine Dringlichkeit aufzubauen. Denn damit der Start in eine Duale Organisation gelingt, müssen diese Leuchtturmprojekte erfolgreich werden. Die Dringlichkeit sollte sich daher auf deren Umsetzungserfolg fokussieren. Ist dies nicht möglich, muss sich die Organisation ernsthaft fragen, ob sie bereits alle Grundvoraussetzungen (vor allem auf der Kulturebene) erfüllt, um digitale Produkte & Services erfolgreich entwickeln zu können oder ob sie nur «Innovationstheater spielt».

 

2. Führungskoalition zusammenstellen
Diese Koalition setzt sich aus Mitarbeitenden zusammen, die den Wandel vorantreiben.
Wir stimmen mit Kotter überein, dass es Personen braucht, die den Start des Zweiten Betriebssystems begleiten. In einem ersten Schritt geben sie – als selbstorganisiertes Team – die Initialzündung für die entsprechenden Change-Aktivitäten und in einem zweiten Schritt sind sie für die Stakeholder Ansprechspartner, Mentoren, Sponsoren, etc. beim Aufbau der Netzwerkorganisation. Wir haben gute Erfahrungen mit der Zusammenstellung eines «Aufbauteams» gemacht, das sich durch Mitarbeitende zusammensetzt, welche die wichtigsten Stakeholder vertretenen (namentlich Human Ressources, die Kommunikation, die IT, wenn vorhanden die Unternehmensentwicklung und in Deutschland den Betriebsrat).

3. Vision erarbeiten und entsprechende strategische Initiativen daraus ableiten
Durch eine starke Vision und eine klare Strategie soll der Weg zu einer Dualen Organisation den Mitarbeitenden aufgezeigt werden. Das sehen wir wie Kotter.
Aufgrund der Tatsache, dass 80% aller Strategien nicht wie ursprünglich geplant umgesetzt, und dass die meisten Visionen von den Mitarbeitenden nicht verinnerlicht werden, gehen wir diesen «Beschleuniger» differenzierter an:
So sind wir auch der Meinung, dass es eine Vision braucht, welche durch das Top Management erarbeitet wird; nicht durch das Aufbauteam (bei Kotter die Guiding Coalition)! Diese sollte aber erst erstellt werden, wenn erste praktische Erfahrungen mit dem zweiten BS gemacht wurden und das Top-Management dieses 2 BS «spüren» kann. Ansonsten bleibt die Vision ein Papiertiger.
Auch die strategischen Initiativen sollten sich immer von sich aus durch die Digitalisierungsprojekte ergeben und nicht umgekehrt. Sie sollten immer mit der Gesamtunternehmensstrategie verknüpft sein/werden. Dies ist üblicherweise der Fall, wenn die Projekte für die Organisation strategisch relevant sind und im Idealfall aus der Linie kommen (um dort konkrete Kundenbedürfnisse zu befriedigen).

4. Freiwillige mobilisieren
Nur Freiwillige sollten zum Aufbau der Netzwerkorganisation hinzugezogen werden, da der Change sonst nicht gelingt. Da stimmen wir mit Kotter überein.
Damit sind wir einverstanden, wobei wir hier hervorheben möchten, dass nicht immer Alle vollumfänglich freiwillig an Leuchtturmprojekten partizipieren. Manche Personen werden zum Aufbau eines 2 BS hinzugezogen, weil nur sie die entsprechenden Kompetenzen mitbringen. Das kann man vor allem in Unternehmen beobachten, die bereits Projektmisserfolge hinter sich hatten, durch die viele Mitarbeitende demotiviert wurden. Doch es gibt eine gute Nachricht: Wir stellen häufig fest, dass sich etliche Demotivierte wieder zu hochmotivierten Freiwilligen wandeln, wenn das Zweite BS diesen Personen ein angenehmes Arbeitsumfeld bietet, in denen sie viel Neues lernen können und kurzfristige Erfolge (Quick wins) möglich sind.

Das «Heer von Freiwilligen», wie es Kotter nennt, lässt sich unserer Erfahrung nach am besten ausbauen, wenn die Entwicklungsschritte und Erfolge des Zweiten Betriebssystems professionell kommuniziert werden und so automatisch Interessierte anzieht (mehr dazu in den Blogartikeln zum Themenbereich «Duale Organisation und Kommunikation»)

5. Massnahmen entwickeln, die Barrieren/Hürden abbauen
Hier sind wir mit Kotter einer Meinung. Jegliche Hürden/Barrieren, die den Aufbau eines Zweiten BS behindern, müssen identifiziert und zeitnah angegangen werden. Wir gehen noch einen Schritt weiter: wenn diese Hürden/Barrieren nicht aus dem Weg geräumt werden können, muss sich die Organisation (namentlich das Top Management) ernsthaft die Frage stellen, ob sie bereit ist für diesen Wandel.

6. «Quick wins» (schnelle Erfolge») erzielen
Auch hier gehen wir mit Kotter einig. Schnelle Erfolge sind überlebenswichtig für die nachhaltige Institutionalisierung des Zweiten Betriebssystems und sollten daher so oft wie möglich entsprechend gefeiert werden! Gerade Letzteres geht häufig in der Tagesgeschäftshektik unter, kann aber bedeutend zum Erfolg beitragen. Daher können wir nicht oft genug wiederholen: Menschen feiern gerne, daher sollen sie auch berufliche Erfolge regelmässig feiern!

 

7. Für ständige Beschleunigung sorgen (=Dringlichkeit hochhalten)
Kotter führt verschiedene Massnahmen auf, welche für eine Beschleunigung sorgen sollen.
Wir sehen nur eine, die in unseren Augen wahrhaftig anschlägt und nachhaltig ist: die regelmässige und konsequente Durchführung von Reviews & Retrospektiven. Vor allem mit dem Top-Management, damit dieses regelmässig abgeholt wird.

8. Wandel institutionalisieren
Die erreichten Change-Ziele sollten im Rahmen des organisationalen Wandels verankert werden. Auf die dazu von Kotter vorgeschlagenen Methoden und Schritte werden hier nicht eingegangen.
Unserer Erfahrung nach ergibt sich diese (kulturelle) Institutionalisierung von selbst, wenn der Aufbau und die Festigung des Zweiten Betriebssystems konsequent vorangetrieben werden.

Interessant sind die Best Practice-Fälle am Schluss des Buches, in welchen Kotter Umsetzungserfahrungen, die er und sein Team zu diesem Thema gesammelt haben, aufführt.
Das Buch ist, wie gesagt, eine Muss-Lektüre für Alle, die sich mit dem Thema Duale Organisationen/Zweite Betriebssystemen beschäftigen möchten. Wir finden, dass der von ihm gewählte Ansatz und die Vorgehensweise eher für globale Grossunternehmen gedacht sind. Denn eine duale Organisation kann nicht in kurzer Zeit entwickelt werden, wie das bei der Lektüre des Buches den Anschein erweckt, sondern ist ein Prozess von 10+ Jahren. Viel wichtiger ist es, pragmatisch vorzugehen und kurz- und mittelfristige Erfolge zu erzielen, um schnell ein funktionsfähiges sowie organisationsintern anerkanntes Zweites Betriebssystem zu bauen.